“Die Storyfizierung der Realität”

Peter Brooks ist Literaturwissenschafter. Er lebt und arbeitet in den USA. 1984 schrieb er das Buch, “Reading for the Plot”, in dem er darstellte, wie wichtig es ist, Geschichten nicht nur zu analysieren, sondern auch zu erzählen.

Knapp 40 Jahre später schlägt Brooks, der heute 85 Jahre alt ist, die Hände über dem Kopf zusammen und beklagt den Missbrauch des Geschichtenerzählens. “Ich kann heute keine Schokolade mehr kaufen, ohne dass mir auf der Rückseite die Geschichte der Firma erzählt wird”, sagt er. Wen sollen alle diese Geschichten denn interessieren, fügt er rhetorisch hinzu. Und etwas nachdenklicher fragt er, was diese Geschichten mit uns und der Realität machen, in der wir leben.

Brooks erinnert an Ronald Reagan, den Mann, der Schauspieler war und zum Präsidenten wurde. Mit Ronald Reagan, so Peter Brooks, habe das Regieren per Anekdote begonnen. Es waren Geschichten, mit denen Reagan seine politischen Vorhaben in der Öffentlichkeit vertrat. Statt über Arbeitslosenquoten zu sprechen und darzulegen wie er diese reduzieren wolle, beschrieb er erzählend den tristen Tagesablauf einer Person, die ihre Arbeit verloren hatte. Brooks nennt das die “Storyfizierung der Realität”. Es werden Geschichten erzählt, wo eigentlich Fakten, Analysen und Vergleiche angebrachter wären.

Das Problem seien nicht so sehr die Geschichten an sich, sondern der Stellenwert, der ihnen beigemessen wird.

Nicht nur in der Politik lasse sich das beobachten.

In der Philosophie zum Beispiel habe sich die Auffassung durchgesetzt, dass sich in der Ethik viele moralische Fragen nur erzählerisch vermitteln lassen. In den Wirtschaftswissenschaften ist man der Überzeugung, dass Vertrauen auf Narrativen beruhe. In der Gesundheitsfürsorge ist von “narrativer Medizin” die Rede, denn es gibt ja auch einen Zusammenhang zwischen Lebensnarrativ und Krankheit. Die in Berlin erscheinende “taz” ergänzt in einer Besprechung von Brooks neuem Buch “Seduced by Story: The Use and Abuse of Narra­tive“, dass das Geschichtenerzählen zum Paradigma jeder Form der Kommunikation geworden ist. Es wird ebenso an Journalistenschulen unterrichtet wie in Werbe- und Branding-Seminaren. Wer auf die Website von Unternehmen der unterschiedlichsten Branchen geht, wird zuerst auf die „Story“ des Betriebs geleitet. Was dieser Betrieb eigentlich macht, erfährt man erst später oder gar nicht.”

Dass wir uns häufiger Geschichten erzählen, ist für Brooks nichts Schlechtes, denn das Erzählen sei eine im menschlichen Sein tief verwurzelte Tätigkeit. Einzig dürfe man den Blick für die Grenzen einer Erzählung nicht verlieren. Geschichten sind nicht dazu da, nur hingenommen zu werden, sie müssen auch hinterfragt werden können.

Die großen Narrative, die vor allem im 18., 19. und 20. Jahrhundert entstanden seien – Frieden, Fortschritt, Freiheit, Gesundheit – seien heute nicht mehr so präsent. Sie seien, so Brooks, verblasst und durch kleinere Lebensnarrative abgelöst worden. Wörtlich sagt er in dem bei Zeit online erschienenen Interview: “Und als die großen Narrative, die ausdeuteten, wer wir waren in der Welt, ihre Kraft verloren, begründete das auch den Aufstieg der vielen kleinen Geschichten… Alle wollen dir heute ihre Geschichte erzählen. … Und ich frage mich: Sind diese Geschichten es wert, gehört zu werden? … Sind sie wichtig? Sind sie egal oder sind sie vielleicht sogar geradezu toxisch? Und wie beeinflussen sie die Realität – wenn etwa Trump die Geschichte vom Wahlbetrug erzählt und seine Anhänger das Kapitol stürmen?”

siehe auch Zeit online vom 07.01.2023 und die tageszeitung vom 23.8.2023

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